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Kolumne

Vom Ende alter Konzepte

Eingeschliffene Muster hinterfragen und neues wagen. Wie froh wäre der kleine Käfer gewesen, hätte das der Leitkäfer getan! In der Fabel von Lorenz Pauli erfahren Sie, wie es den beiden ergangen ist.

Sportunterricht bei den Käfern: Der Leitkäfer befahl: «Stellt euch in einer Reihe auf. Hinten der Kleinste, vorne der Grösste.»

Der kleinste Käfer mit seinen kurzen Beinen brauchte eine Weile, bis er am Ende der Reihe angelangt war. Ja, er war schon immer der Kleinste gewesen. Die Grösseren (also alle) kicherten. Der Leitkäfer hatte inzwischen die Anweisungen gegeben: «Ihr lauft zum Wiesensalbei, dann zum Spitzwegerich, kriecht unter dem Ast dort durch und dann – hopp! – ins Ziel beim Baumstrunk!»
Der kleinste Käfer sah die einzelnen Stationen wegen einer Träne nur verschwommen, die Anweisungen verstand er nicht genau, weil er sich auf das genaue Hinschauen konzentrierte.
Nicht jeder, der in einer Disziplin schwach ist, ist dafür in einer anderen besonders gut. Er verwechselte den Wiesensalbei mit dem Hahnenfuss, verletzte sich beim Ast, über den er balancierte, kam als Letzter ins Ziel und wurde zudem disqualifiziert. Die Schramme tat weh. Der Leitkäfer sprach ihm Mut zu: «Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.»
Dann wurden Mannschaften für ein Spiel zusammengestellt. Zwei starke Käfer wählten. Der kleinste Käfer blieb übrig. Es wurde kurz gestritten, wer ihn nehmen müsse. Seiner Mannschaft musste er versprechen, nicht im Weg zu stehen. Der Leitkäfer munterte ihn auf: «Du musst nur an dich glauben.» Offenbar glaubten die anderen stärker an sich. Denen schien alles so unglaublich leichtzufallen.
Nach dem Sportunterricht versperrten drei Käfer dem kleinsten Käfer den Weg. Zwei verknoteten ihm die Fühler. Ein Spässchen. Es sah lustig aus, fanden alle drei. Der kleinste Käfer ging zurück zum Leitkäfer und erzählte ihm, was vorgefallen war.
Der Leitkäfer sprach: «Erstens: Man soll nicht petzen. Zweitens: Du musst dich halt wehren! Sei stark! Drittens: Drei von vier fanden es lustig. Wir leben in einer Demokratie.»
Die Zeit verging. Der kleine Käfer wurde nur unbedeutend grösser, aber immerhin älter. An die jeweiligen Käferfeste, bei denen über die guten alten Zeiten geredet wurde, ging er nie.
Eines Tages hörte er die Stimme des Leitkäfers: «Du! Kleiner! Ich habe dir immer geholfen, jetzt hilf du mir!» Der kleine Käfer schaute sich um. Der Leitkäfer war einer Spinne ins Netz gegangen. Die Spinne liess sich Zeit.
Der kleine Käfer hatte es oft genug gehört. Nun rief er es selber: «Man kann sich nur selber helfen!»
Der Leitkäfer schrie: «Komm endlich. Ich habe mich in den Fäden verheddert!»
«Nehmen Sie das Schicksal als Chance!», empfahl der kleine Käfer. Er hatte wirklich viel gelernt im Unterricht.
Der Leitkäfer brüllte: «Ich brauche Hilfe. Wer Unterstützung braucht, muss sie auch bekommen!» Der kleine Käfer war von so viel plötzlicher Einsicht beeindruckt.
Da kam die Spinne. Sie war klein und wirkte etwas unsicher. Aufmunternd nickte ihr der kleine Käfer zu. «Ein schönes Netz hast du gebaut! Und wenn du Unterstützung brauchst, sag es mir.»

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Zum Autor

Lorenz Pauli ist seit 2013 als freier Schriftsteller, Erzähler und – wie er sich selbst bezeichnet – Fantasie-Gärtner tätig. 25 Jahre lang arbeitete er als Kindergärtner und zwischendurch in der Erwachsenenbildung. Seine Geschichten, Hörspiele und Liedertexte schreibt er für Kinder zwischen vier und elf Jahren und alle anderen, die sich daran erfreuen.


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Nicole Althaus ist Kolumnistin, Autorin und Chefredaktorin Magazine der NZZ. Sie hat zuvor den Mamablog für Tages­anzeiger.ch lanciert und das Familienmagazin «wir eltern» geleitet und neu positioniert. Nicole Althaus hat zwei ­Töchter im Teenageralter und lebt in der Nähe von Zürich.

  • Nicole Althaus
  • 15.01.2019